Viele Übende des Yoga fragen sich, wie ihre Übungspraxis zum Alltag und der alltäglichen Lebenspraxis in Beziehung steht. Ganz einfach gesehen, können wir erst einmal feststellen, dass eine regelmäßige Yogapraxis sich heilsam auf den Körper und das Nervensystem auswirkt und damit das tägliche Leben besser, ruhiger und mit mehr Energie in Angriff genommen werden kann.
Bei dieser einfachen Betrachtung kommt den Übungen aber noch sehr stark eine Rolle zu, die sie rein von ihrem Nutzaspekt her betrachtet. Wenn wir den tieferen Zusammenhang zwischen Leben und Yogapraxis erkennen wollen, erscheint es mir sinnvoll, über diesen Nutzaspekt hinauszublicken und das eigentliche innere Verhältnis des Übenden zur Übung auf der Yogamatte näher zu betrachten.
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Es steht also nicht die für unsere Zeit so typische Fragestellung im Vordergrund, die danach fragt, wie diese und jene Übung sich für den Alltag nutzen lässt, welche Übungen bei Erschöpfung gut sind, welche zu mehr Ruhe verhelfen und so weiter.
Um für die folgende Betrachtung einen geeigneten Ausgangspunkt zu gewinnen, müssen wir davon ausgehen, dass dem Leben in seinen vielfältigen Formen weisheitsvolle Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, die in der Yogaübung künstlerisch zum Ausdruck gebracht und erforscht, ja sogar erprobt werden können. Die Übung ist damit nicht etwas, was neben dem „wirklichen Leben“, in einem ausgesparten Zeitraum nebenher geübt wird und somit für dieses „eigentliche Leben“ nutzbar gemacht wird, sondern in ihr drückt sich das Leben nicht nur in seiner sichtbaren Manifestation sondern auch in seinen tieferen Dimensionen und Prinzipien direkt aus.
So wie die Mathematik ganz objektiv den vielfältigen Formen des Lebens zugrunde liegt, so sind die Bewegungsformen der Übung aus langer weisheitsvoller Tradition so gewählt, dass in ihnen eine innere Logik aufscheint, die vom Übenden erlebt, erfahren und auch erkannt werden kann.
An Stelle des rein materiellen Nutzprinzips müssen wir daher mehr das Prinzip des Lernens und inneren Verstehens in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen, wenn wir die wahren inneren Zusammenhänge zwischen Leben und Übung suchen. Derjenige, der an einer Übung lernt und sie nicht nur „benutzt“, ist durch diese gehobene innere Haltung um einen Grad freier von der Übung und der eigenen Übungspraxis geworden, da er im Aktivwerden seiner Seelenkräfte, im Hinschauen, im Vergleichen, und aktiven Suchen nach der inneliegenden Logik tätig wird. Der rein nach materiellen Nutzprinzipien Suchende wird von seiner Übungspraxis unweigerlich abhängig werden müssen, da er letztlich nur eine Technik in den Übungen sehen kann, die in sich selbst noch keine eigene lebensvolle Bedeutung trägt.
Das Interesse an der Übung selbst hebt uns also über das rein materielle Prinzip empor und gleichzeitig kann aber auch das Interesse nur entstehen, wenn die Fixierung auf den reinen Nutzen einer „Übungstechnik“ zurückweicht. Für denjenigen, der dieses Interesse findet, werden die Übungen zu wunderbaren Ausdrucksformen des Lebens, an denen er wohl immer wieder neue Aspekte entdecken wird.
Zuerst fallen die körperlichen Faktoren auf: So wird er beispielsweise feststellen, dass die mittlere Wirbelsäule eine große Bedeutung einnimmt. Die Bewegungen verströmen sich gewissermaßen aus dieser Mitte in die Gliedmaßen. Dann sind auch die entspannten Schultern von Bedeutung: Angespannte Schultern sind ja meistens ein Zeichen von einem „angespannten“ Denken. So gesehen lässt sich hier schon einmal vom Körper auf das Seelenleben schließen – ist dieses entspannter, entsteht auch leichter ein Rhythmus.
Insofern wird bereits der Yoga-Anfänger unwillkürlich und auf mehr intuitive Weise anhand der Übung auf einige sehr elementare Lernerfahrungen stoßen, die sich wie von selbst auch im Alltagsleben ausdrücken werden.
Wirklich tief greifende Lernschritte entstehen aber meist erst dann, wenn imaginative Gedanken in das Studium der Übungen mit einbezogen werden. Heinz Grill, der Begründer dieser Herangehensweise an Yogaübungen hat in jahrzehntelanger geistiger Forschung viele solcher Imaginationen herausgearbeitet und in seinen Büchern zur Verfügung gestellt.
Ein unermesslicher Schatz an lebendigen Vorstellungsbildern wartet mit dieser Literatur darauf, vom Studenten des Yoga „gehoben“ zu werden. Hat der Übende anhand der Literatur eine klare Vorstellung von einem Aspekt der Übung entwickelt, wird er die nachfolgende Ausführung der Übung wie von diesem Gedanken „getragen“ erleben. Das Bewusstsein des Übenden wird von dem wie gegenwärtig erlebten, spirituellen Vorstellungen erfüllt, befeuert und geweitet, während der Körper sich viel freier als gewöhnlich den rhythmisch sich öffnenden und schließenden Bewegungen hingibt. Die Vorstellungsbildung zur Übung kann dabei unterschiedliche Grade der Komplexität aufweisen. Für ein systematisches Vorgehen scheint es günstig, sich die Übung Schritt für Schritt, ausgehend von der körperlichen Dynamik über die seelische Empfindungsdimension bis hin zur geistigen Bedeutung zu erarbeiten.
„Die Wirbelsäule bewegt sich dynamisch aus ihrer Mitte im manipura-cakra hervor und aus diesem Zentrum wie auch aus der Wirbelsäule selbst bewegen sich schließlich die Gliedmaßen in ihre angenehme und doch entspannende Weite. Im rhythmischen Wechsel erlebt der Einzelne, wie er sich mit dem Atemleben näher verbindet und wie er den Atem selbst aus einem unendlichen Rhythmus erfährt. Gleichzeitig wird für ihn das Bewegungsleben zugleich zum Atemleben selbst. Jede Bewegung in Adduktion und Abduktion, in Öffnen und Schließen, in Wölben und Strecken, in Weiten und Verengen, in Beugen und Aufrichten führt zu einem verborgenen Erlebnis des Atems. Alle Bewegung ist eine verborgene Atemtätigkeit. Mit den Bewegungen verströmt sich der Leib hinein in den sphärischen Raum. Er atmet ein und aus und formt sich daraus seine Mitte.“
Heinz Grill, Ein neuer Yogawille für ein integrales Bewusstsein in Geist und Welt
Nachdem der Satz mehrmals aufmerksam gelesen wurde und man sich dadurch eine bildhafte Vorstellung gebildet hat, ist es sinnvoll, die Übung mehrmals zu praktizieren und auf die Veränderung des Wahrnehmens zu achten, wenn die Übung nun von einem Gedanken begleitet ist. Das Verhältnis von Gliedmaßen und „Mitte“ im manipura-cakra wird so sehr schön erfahrbar werden.
Der Text beschreibt nun weiter das Erleben des Atems beim Üben. Dieser Abschnitt ist nun etwas schwerer zu fassen und in geeignete Vorstellungen zu bringen. Er beschreibt das Erleben des Atems als eine kosmische Dimension. Es „erlebt der Einzelne, wie er sich mit dem Atemleben näher verbindet und wie er den Atem selbst aus einem unendlichen Rhythmus erfährt“, heißt es im Text. Bei diesem und den folgenden Textabschnitten ist es ratsam, sich nicht an einem sofortigen „Verstehen-wollen“ des Textes zu orientieren, sondern ihn, etwa wie ein Gedicht, aufmerksam einige Minuten zu betrachten und als bildhafte Vorstellung aufzubauen.
Dabei ist es gut zu wissen, dass im Yoga der Atem grundsätzlich nicht primär als eine physische Tatsache betrachtet wird, sondern als ein „kosmischer Rhythmus“ der belebend und bewegend den Körper erfasst. So kann es sinnvoll sein, ergänzend zu dem obigen Text noch folgende Textstelle aus dem Buch „Kosmos und Mensch“ von Heinz Grill zum Studium hinzuzunehmen:
„Der Atem ist eine namenlose Wirklichkeit und eine hohe und höchste Energiequelle, die unser Leben von einer unmanifestierten Warte ausgehend leitet. Es ist sehr wichtig, dass wir uns in einem Bewusstsein bewegen zu jener außerirdischen Kraftquelle des Atems, die wir selbst nicht zu lenken und leiten vermögen, sondern die uns führt und durch das Leben begleitet und uns die Lebenskraft schenkt. Der Atem ist Seele, und er ist mit dem Wort atman, das übersetzt »Seele«oder »höchste Seele« bedeutet, verwandt. Auch die Sanskritsprache drückt das Atmen in ihrer eigenen rhythmischen Struktur aus. Sehr viele kurze und lange»a«, die ein Ausdruck des Hauchens, verbunden oftmals mit dem »h« sind, beschreiben die kosmische Dimension und die Wirklichkeit des Atems, der ein ursprüngliches Bewusstsein und eine ursprüngliche Seele darstellt. Es ist für unsere erste Erkenntnis wichtig, dass wir jene Unterscheidung treffen über die Herkunft und über die weise, höhere Natur dieses Atems, der uns bewegt. Nicht wir oder die Lunge bringen den Atem hervor, der Atem bewegt uns und bewegt unser Seelenleben.“
Nimmt man diese Texte nun wiederholt, evtl. auch über einige Tage hinweg als Studiengrundlage, so kann sich die Wahrnehmung der Übung zu einer ungeahnten Weite steigern. Das Verständnis der Gedanken erschließt sich dann letztlich aus dem Gedanken selbst und nicht durch rein intellektuelles Nachdenken über diese.
Den Zusammenhang zwischen Übung und Lebenspraxis ergibt sich also auf eine Weise, die weniger die praktische Verwertbarkeit in den Mittelpunkt stellt, sondern mehr das innere Verstehen zum Leben bereichert. So wird die Beschäftigung mit diesen Inhalten auch für das Alltagsleben eine Art Neubeginn im Erleben bedeuten, die durchaus als ein erstes spirituelles Fühlen zu den verborgenen Lebensgesetzen gewertet werden kann. Die Yogaübung erstrahlt bei der Ausführung in einem neuen Licht, da sie von einer authentischen Wahrnehmung zu deren Sinngehalt getragen und durchstrahlt wird.